Das bunte Licht der Chaosenergie blitzte selbst durch die teure neue Sucherbrille so hell, als wäre die Sonne direkt hinter die dreifachen Schattenkristallgläser gesetzt worden. So kam es Screech zumindest vor. Er hatte so lange darauf gespart, dass sie schon lange nicht mehr das neueste Modell war. Immerhin half sie aber mehr als das schlampig selbst gebaute Stück, was er davor hatte. Vielleicht hätte er doch einfach der Zwergen-Tradition seiner Familie folgen und Schmied werden sollen.
Langsam wurde es leichter, zu atmen. Immer weniger Schichten dreckigen Stoffs blieben ihm noch, bis die wilde, unerklärliche Macht durch sie zu ihm durchdringen und ihn in die bunte Masse aufnehmen würde, die nie aufhörte, sich von einem unfassbaren Objekt in das nächste zu verwandeln. „In was es mich wohl verwandeln würde?“ Er sah um sich, in der Hoffnung, doch etwas in all dem verrückten Durcheinander zu erkennen. Immer als der Schatzsucher dachte, er hätte etwas Vertrautes entdeckt, hatte es sich aber schon wieder zigmal verformt und verbogen. Screechs Augen wanderten umher, immer auf der Suche nach etwas, was ihm nützen würde. Irgendwie hatte das alles auch etwas Wunderschönes an sich. Die Stränge aus purer farbenfroher Energie, die, mal wie Blitze, mal wie Schlangen, zwischen den Wänden hin und her zuckten. Irgendwo aus seinem Unterbewusstsein riss ihn dann aber doch der Schatzsucher-Instinkt aus seinen Gedankenschleifen.
Hechelnd und keuchend kam Screech am Rand des scheinbar endlos tiefen Lochs an, von allen nur „der Brunnen“ genannt. „Na, mal wieder zu viel geträumt?“ Der Haufen aus alten, dreckigen Kleidungsstücken neben ihm fing an, sich langsam zu heben und unter ihm kam eine junge Dunkelelfe zum Vorschein. Sie warf die wenigen verbleibenden Kleidungsschichten, in das bunt leuchtende Loch neben ihnen und wickelte sich in eine schlichte, aber elegante Robe. Screechs Blick wendete sich schnell ab und er begann leicht rot zu werden. „Ich bin doch rechtzeitig rausgekommen, oder nicht?“ warf Screech zurück, immer noch etwas außer Atem. „Ja ja, du weißt doch, ich mach nur Spaß“, erwiderte die Dunkelelfe und sprang auf „und jetzt lass uns hier raus, ich will nicht erwischt werden!“ Die plötzliche Bewegung ließ Screech auch aufschrecken. „Bei Klepto, Shamika, was rennst du denn so?“, rief Screech ihr noch hinterher, Shamika war aber schon lange um die nächste Ecke hinter den brüchigen alten Steinen verschwunden.
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Die Tür der kleinen Hütte, in der Shamika und Screech wohnten,war so morsch und brüchig, dass es sich eigentlich schon gar nicht mehr lohnte, sie abzuschließen. Ersetzt wurde sie aber auch nie. Wozu denn auch, es gab es in der kleinen Holzhütte auch nichts Wertvolles, was sie beschützen müsste. Shamika lag schon lange auf dem Sofa, als Screech endlich auch in dem verfallenen Bau angekommen war.
„Du bist ja immer noch völlig aus der Puste, Screech! Hier, trink erst mal was, ich mach uns was zu essen.“
„Du hattest es ja auch ganz schön eilig!“ Erwiderte Screech und sackte auf der Couch zusammen.
„Du weißt doch, ich mag die Stadt nicht, ich wollte so wenig Zeit wie möglich in diesem Rattenloch verbringen.“ Die grazile Gestalt der Elfin beugte sich runter zur Vorratskiste wie ein Ast, der die Last der eigenen Früchte nicht ganz tragen kann. „Hast du nicht Essen gekauft?“
„Hab ich doch.“
„Meinst du diese trockenen Armeerationen?“
„Was ist denn das Problem? Das ist nahrhaft und billig.“
„Na dann, guten Appetit, ich ess lieber nichts, als diese traurigen Klumpen.“ Erwiderte Shamika und warf ihm eins der in braunem Papier eingewickelten Nahrungsblöcke zu. „Woher bekommst du so etwas überhaupt, werden die nicht nur in der Armee verteilt?“
„Naja, ich hab halt meine Kontakte.“
„Ouh, so geheimnistuerisch?“ Shamika legte sich zu Screech auf das Sofa. „Wer handelt denn diese Delikatessen?“ Ihre Stimme wurde fast unter dem lauten Rascheln des Papiers begraben.
„Hinten, am Nordtor verkauft ein Soldat immer überflüssige Rationen, das ist der beste Weg, hier billig an Nahrung zu kommen.“
„Ich versteh ja, dass du sparen willst, wo du kannst, aber das ist doch … Bei den Zehn, was ist das?!“ ungläubig starrten die tiefvioletten Augen der Elfin den grauen Block in Screechs Hand an.
„Dörfel nennen sie das, schmeckt zwar ein bisschen wie Pappe in Fett gebraten, aber es sind die nötigen Nährstoffe drin und das reicht mir.“
„Dörfel…“ Das Wort selber kam aus Shamikas Mund, als würde sie es ausspucken wollen.
„Du solltest wirklich auch was essen, du brauchst die Energie,wenn du morgen wieder da runter steigen willst.“, riet Screech mit vollem Mund der jungen Schatzsucherin.
„Erzähl mir nichts davon, wie ich das zu machen habe, du verlierst dich andauernd in Gedanken, wenn du da unten bist. Du musst bei der Sache bleiben, Screech!“
„Ja ja, mach dir keine Sorgen, ich …“
„Nix da ‚ja ja‘, ich hab mir Sorgen gemacht! Das kannst du mir nicht antun!“
„Ich komm klar, vertrau mir und selbst wenn ...“
„Klepto sei mit dir, du nimmst das nicht ernst genug! Eine Berührung mit dem Zeug und du bist tot!“
„Ich bin heute doch nicht gestorben, oder? Sonst könnte ich hier doch nicht sitzen und mich von dir anschreien lassen!“
Der Knall der Tür, die Screech hinter sich zuschlug, brachte die Stille so plötzlich mit sich, als hätte er das Gespräch damit erschlagen.
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Der nächste Morgen begann mit derselben Stille, die am Abend davor so plötzlich begann. Zu Screechs Erstaunen fand er Shamika im Wohnzimmer mit einer der Armeerationen in der Hand. Nachdem die beiden Schatzsucher eine Weile wortlos ihr Frühstück verdrückt hatten, bahnte sich Shamikas Stimme sanft und ungewohnt kratzig durch die Morgenluft. „Diese Dörfel sind gar nicht so schlecht, wie sie aussehen.“ Mehr als ein grummelndes „Mhm“ bekam sie aber als Antwort nicht. „Hör zu, ich war mir nicht sicher, ob du da wieder rauskommst und das war nicht das erste Mal, ich …“ „Ist gut, lass uns einfach losgehen, ja?“ Die Tür krachte erneut splitternd hinter Screech ins Schloss.
Shamika hatte mit ihren langen, spindeldürren Beinen kein Problem, den leicht humpelnden Screech schon nach wenigen Metern einzuholen. Inmitten der Massen von Kreaturen, Geschäften und vorbeirollenden Wägen in Omnis‘ Innenstadt fiel Screech plötzlich ein Schild auf. „Antoks Kräuter und Gewürze“ stand in großen roten Buchstaben darauf geschrieben. „Geh du schon mal vor, ich hab noch was vergessen!“ Als wäre er besessen worden, warf er der vollkommen perplexen Shamika seinen Beutel entgegen und stürmte gedankenverloren in die Menge, schlängelte sich durch das Chaos hindurch und kam vor dem Geschäft an. Der Laden war riesig und trotzdem bis auf die Straße überfüllt mit Kreaturen aus allen Winkeln der Welt, die sich um die wundervoll duftenden Gewürzhaufen scharten, die wie ein Gebirge aus buntem Sand nebeneinander aufgeschichtet waren. Zwischen all den verrückten Gestalten entdeckte er es: eine Werbung für „Qassarianisches N’kulu“. Seit Ewigkeiten redete Shamika davon. „Das rote Gold der Küche“ nannte sie es. Zumindest hatte Screech es so in Erinnerung. Das wäre das perfekte Geschenk für sie! Wie eine Wühlschlange durch die eine Sanddüne bahnte er sich geschickt seinen Weg durch die Massen an Kunden zur Theke. „Kann ich Ihnen helfen?“ Begrüßte ihn die freundlich blickende Noktuskia dahinter. Für den stolzen Kaktus-Chimären-Stamm der Noktusken war gerade Blütezeit und die Verkäuferin war geschmückt mit einer bezaubernden Mischung aus blauen und weißen Blüten. Um die Schönheit der Noktusken zu bewundern, hatte Screech aber keine Zeit, hin interresierte nur eins. „Was kostet eine kleine Packung N’kulu?“ „Ah, das Purpurrote Gold der Küche!“, erwiderte die Händlerin, „nur tausend Omnis für eine kleine Tüte.“ Die Antwort der Verkäuferin traf Screech wie ein Schlag in den Bauch. „Ah, danke, ich ... ich schau mich nochmal um!“ stammelte er, bevor er wieder in der bunten Menge verschwand. Klar, Gewürze waren teuer, aber so, dass er sich mit seinem über zwei Monate zusammengesparten Geld nicht mal eine winzige Packung leisten konnte?
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Immer noch etwas durch den Wind kam er endlich an der etwas in sich zusammen gerutschten Stelle der Absperrung zum Brunnen an. Er zwängte sich durch einen kleinen Spalt zwischen dem Schutt und bahnte sich seinen Weg zum dahinterliegenden Rand des Brunnens.
Zu seiner Überraschung lag Shamika etwas abseits da, die Taschen noch voll mit den Stofflumpen, die sie vor der Chaos-Energie schützen sollen, wenn sie in den bunt leuchtenden Abgrund absteigen. „Du ... hast auf mich gewartet?“ begrüßte er die Elfin. „Natürlich hab ich auf dich gewartet“, erwiderte sie und warf ihm seinen Beutel in die Arme. „Außerdem kann dich doch nicht alleine da absteigen lassen, du Idiot.“ Bevor er es überhaupt merkte, huschte Screech ein verlegenes Lächeln über das Gesicht. „Na los, zieh dir deine Sachen an, ich will auch wieder nach Hause“ setzte Shamika hinzu. „Klar, ja, bin dabei!“ Screech begann hastig, sich den Haufen Kleidungsstücke aus seiner Tasche überzuziehen.
Eine Stunde und einige in der wirren Masse verlorene Stoffstücke später kroch Screech, er war immer noch ein Berg aus wilden Lichtern und Formen, aus dem Loch und warf geschickt die schon sehr dünne Hülle aus Kleidung dort hinein, wo er dem Chaos gerade entkommen war. Leicht stolpernd hastete er zu der Stelle, an der die beiden ihre Beutel abgelegt hatten. „Shamika!“ Dem Zwerg war die Freude aus der Stimme zu lesen. „Shamika, schau mal, was ich …“
Der Anblick der Beutel, die ganz alleine in all dem grauen Schutt lagen, drückte ihm die Freude sofort wieder zurück in seine Magengrube und nahm dabei den Rest des Satzes mit sich. „Shamika?“, eine leichte Panik füllte seine Kehle. Außer dem sanften Summen des Brunnens antwortete Screech aber nur seine eigene Stimme, die überall von den Mauern um zu ihm zurück hallte, von der Schatzsucherin keine Spur. „Shamika?!“ Die Panik ummantelte ihn so stark, dass seine Umgebung zu verschwimmen begann. So bemerkte er auch die Hand nicht, die sich zu seiner Linken aus dem Loch hob und den bunten Haufen mit sich zog, unter dem sich Shamika verbarg. Erst als sie auch ihre schützenden Stofffetzen in den Brunnen geworfen hatte und ihn mit einem „Buh!“ von hinten an den Schultern packte, schreckte er auf und nahm die Elfin wahr. „Beim Pantheon, geht’s dir gut?!“ „Ja, ich war nur etwas länger am Suchen, kein Grund gleich die Heiligen Zehn ins Spiel zu bringen.“, antwortete Shamika scherzend. „Und es hat sich gelohnt, schau mal!“ Shamika öffnete ihre Hand, um darin drei kleine Holzrahmen zu offenbaren, in denen jeweils ein scheinbar endloser Raum versteckt war, der von Chaos-Energie überflutet war. „Drei Rahmen in der Größe sind mindestens 150 Omnis wert!“, schätzte sie. „Heute scheint ein guter Tag gewesen zu sein“, erwiderte Screech, „Ich habe auch zwei erwischt.“
Voller Enthusiasmus kamen die beiden Schatzsucher mit klimpernden Omnis in ihren Taschen vor der morschen Holztür ihres Hauses an. Shamika ließ sich noch nicht einmal von dem Anblick der grauen Dörfel zum Abendbrot stören.
Als Shamika, völlig geschafft von dem aufregenden Tag, schon ins Bett gefallen war, zählte Screech noch einmal gespannt die Omnis in seinem Beutel, seine Augen schienendabeifast wie die kleinen silbernen Münzen selbst. 100 … 200 … 500 … 800 … 950 Omnis! Noch einmal so ein Rahmen und Shamikas Geschenk war ihm sicher. 50 Omnis in zwei Tagen waren gar kein Problem, dachte er sich, mit ein bisschen Glück hatte er das ganz einfach in der Tasche.
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Mit unglaublichen Nackenschmerzen wachte Screech am nächsten Tag auf, mit dem Kopf in seinen Armen, die noch über seinen schimmernden Omnis verkreuzt waren. Hastig scharrte er sie zurück in seinen Beutel und wurde dabei von einem kleinen Zettel vor ihm mit krakeliger Handschrift überrascht:
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Du hast so friedlich geschlafen, da wollte ich dich nicht wecken.
Wie auch immer, Ich bin hinter der Spinnerei im Künstlerviertel, um neuen Stoff zu holen. Du solltest auch mitkommen, geh lieber auf Nummer sicher, bevor du keinen mehr hast und nicht absteigen kannst.
Bis später,
Shamika
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Er hatte aber keine Zeit, um sie für Gedanken an Shamikas Notiz zu verbrauchen. In einer Windeseile raste er durch die Wohnung und packte seine Tasche voll mit Kleidungsstücken aus der Kiste am Ende des Raums, schnürte den Beutel zu und hastete so schnell aus dem Haus, dass es schon ein Wunder war, dass er nicht die alte Holztür mit sich durch Omnis‘ Innenstadt riss.
Nicht mal anderthalb Stunden später schien es auch ganz so, als hätte das Glück seine Entscheidung getragen. Etwas außer Atem, aber mit einem geheimnisvoll grün leuchtenden Rahmen in seiner Hand, stieg Screech aus dem Brunnen.
Mit einem schüchternen Quietschen drückte Screech in den zwielichtigen Gassen hinter dem Brunnenbau die Tür zum „Okkultbasar“ auf. Der Laden hatte kein Schild, das ihm diesen Namen gab, nichts, was ihn dem normalen Omianer gegenüber bemerkbar machen würde, schließlich musste er auch unauffällig bleiben. Der Ruf des düsteren Geschäfts machte es außerdem besser wiedererkennbar, als jedes Aushängeschild das je erreichen könnte. Wortlos schob Screech seinen Rahmen über den hölzernen Tresen am Ende des Raums. Eine Ochsen-Ork-Chimäre, die selbst auf ihre halbe Körpergröße heruntergebückt mit ihrem Rücken die Decke berührte,begrüßte ihren Kunden mit einem kaum merklichen Grummeln. Ihr Körper war gewickelt in bunte Stoffe, in denen unzählige kleine goldene Ketten hingen. Sie war wie gefangen in einem Spinnennetz aus Luxus und Prestige. Wortlos musterte sie den Rahmen, sein schwacher Schein reflektierte sich bunt und grell in ihrer Brille aus glänzendem Regenbogenglas. Dann ließ sie ein paar Silberstücke vor ihrem Kunden auf den Tisch fallen und wendete sich ab, um den Rahmen zu verstauen. „Hey! Gestern habe ich für so einen Rahmen aber noch 50 Omnis bekommen!“ erwiderte Screech, ohne das Geld vor ihm auch nur anzurühren. „Das hier sind nur 35!“ Nach einer viel zu langen Pause donnerte ein Wort wo laut durch den Laden, dass die Münzen vom Tisch gerüttelt wurden und klimpernd über den alten Holzboden tanzten: „INFLATION!“ Die Ruhe, die darauf folgte, schien so leise, als hätte der Schrei allein die Luft zur schweren Holztür hinausgefegt und ein Vakuum in dem kleinen Raum geschaffen. Wortlos sammelte Screech die spärlichen Münzen vom Boden und verschwand zurück in die omnianischen Gassen.
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Wie besessen vor Glück rannte Screech durch nie endende Dünen aus N’kulu. Er griff eine Handvoll des Purpurroten Pulvers, zu seinem Erstaunen verwandelte seine Berührung aber in bunte, peitschende Stränge aus Chaosenergie, die ihn langsam und schmerzhaft zerrissen. Dann plötzlich ein dumpfer Schlag aus seinem Kopf. Dann ein weiterer. „Hey Schlafmütze! Aufwachen! Chronos wartet nicht und die Rahmen finden sich nicht von selbst!“ Shamika schleuderte zielsicher ein drittes Kissen in Screechs Gesicht.
Bis zum Frühstück kam es Screech immer noch so vor, als würde er auf einem Auge träumen. „Na, wo warst du denn gestern noch unterwegs?“ Shamika war an diesem Morgen unfassbar energetisch und gut gelaunt. „Also beim Stoff holen warst du ja nicht dabei.“ Screech gähnte. „Ich war nochmal im Brunnen.“, murmelte er. Shamika schaute ihn besorgt und verwundert an. „Du machst dir aber auch einen Stress!“, gab sie zurück. Wie so oft konnte sie Screech aber nur ein schwaches „Mhm“ entlocken. „Willst du heute vielleicht doch mal eine Pause machen? Wir können uns das schon leisten, bei dem, was wir erst rausgeholt haben.“ Sorgen begannen, ihre Stimme zu erobern. „Nein, nein!“ gab Screech schnell zurück „Lass uns losgehen, ich habe auch noch genug Stoffe.“
Etwas langsamer als sonst erreichten die beiden den Brunnen. Noch etwas müde, aber routiniert wickelte sich Screech in seine übrigen schützenden Stoffe und blickte vom Rand hinab in Richtung des endlosen Grabens voller Licht, soweit er eben konnte. So mächtig und gefährlich wie es war, war es ihm mittlerweile trotzdem irgendwie vertraut geworden. Mit einem letzten Nicken zu Shamika stieg er selber hinab in das bunte Wirrwarr. Nach den ersten paar Minuten schien es ganz so, als wäre ihm seine Glückssträhne in dem okkulten Laden am Vortag aus dem Leib geschrien worden. Weit und breit war kein Rahmen in Sicht, nichts als substanzlose Formen und Farben waren da mit ihm. Langsam aber sicher spürte er die schützenden Stoffschichten schwinden. Seine Atmung wurde immer und immer flacher. Eine Unruhe wuchs in seiner Brust, wie ein kleiner Funken Chaos, der sich langsam in ihm ausbreitete. Der Blick nach unten löschte den Funken aber sofort wieder. Ein Stück weiter unten links, etwa zehn Schritte von ihm entfernt, war etwas Stabiles in der verrückten Masse. Ein Rahmen, locker doppelt so groß wie der, den er am Tag davor gefunden hatte, schien auffällig dunkel aus der grellen Lichtmasse um ihn. Hastig machte sich Screech an den Weg nach unten. Vielleicht etwas zu hastig, denn keine drei Schritte bevor er den Rahmen greifen konnte, trat sein Fuß ins Leere und der plötzliche Fall riss seine Hand von der Stelle, an der er sich gerade noch halten konnte. Dann hing er, mit den Händen in der Wand festgekrallt, ein Stück weiter unten. Für einen schier unendlichen Augenblick nahm Screech nichts wahr, als seine verkrampften Hände vor ihm und das Brennen in seiner Brust, die wieder in schnellen, kurzen Stößen auf und ab bebte. Es waren aber mittlerweile noch so wenige Schichten Stoff, in die er schützend gewickelt war, dass ihm keine Zeit blieb, durchzuatmen. Screech kletterte so schnell er konnte wieder durch das Licht nach oben. Die Strecke zum Rand schien doch bedrohlich länger, als sie auf dem Abstieg wirkte. Seine rechte Hand griff den Rahmen und rüttelte und zerrte an ihm, er wollte sich aber nicht lösen, so sehr er es versuchte. Der Kokon aus Stoffen um ihn wurde dünner und dünner, aber er musste diesen Rahmen bekommen. Für Shamika, für sie war es das Wert. Schließlich löste sich der Rahmen mit einem letzten Ruck aus der Wand und Screechs zittrige Hände ließen ihn fast in den Abgrund fallen, aus dem er geboren wurde. Immer wieder verlor er auf dem Aufstieg durch eine farbenfrohe Zacke, die ohne Vorwarnung aus der Wand schoss, wieder seinen Halt. Keine zwei oder drei Schichten Stoff mussten noch zwischen ihm und dem Licht um ihn liegen. Scharf und kalt brannte die Luft mit jedem hektischen Einatmen in seiner Kehle wie ein Feuer, das in ihn eindrang. Wieder schoss ein bunter Strang Energie blendend vor seinen Augen entlang, da offenbarte sich hinter ihm Shamika, die sich über den Rand des Lochs beugte und ihre Hand, so weit sie konnte zu Screech ausstreckte. Seine rechte Hand fühlte sich taub an, aber er zog sich weiter in Richtung der Elfin. Mit einem letzten Satz schoss seine Hand in Richtung von Shamikas.
Mit einem Entsetzen, das ihn vollkommen übermannte, beobachtete er seinen Arm hochschnellen, der statt in einer Hand, die Shamikas griff, in einer zappelnden und sich windenden bunten Masse endete. Seine verunstaltete Gliedmaße verfehlte die Hand von Shamika und auf einmal fand sich Screech in der Luft wieder, ohne einen Halt an den Wänden des Brunnens zu haben. Für einen Moment war alles still. Nur Screech war da, der Himmel über ihm, das endlose Loch unter ihm und überall um ihn herum nur wildes Licht.
Dann war es, als hätte Chronos selbst die Zeit schneller laufen lassen. Immer weiter zog der Brunnen ihn nach unten. Shamikas Rufe hämmerten sich durch sein Bewusstsein und das Rauschen des Windes schleuderte sie in seinem Gehirn hin und her. Die kalte Luft sickerte durch die Kleidung und bohrte sich unter seine Haut. Das Chaos hatte sich mittlerweile seinen gesamten Arm hochgefressen und fing an, seinen Hals zu verschlingen. Mit ihm nahm es auch seine Stimme, die verzweifelt noch versuchte, einen letzten erstickten Schrei von sich zu geben. Shamikas Rufe waren die letzten vertrauten Laute, die sich noch durch das Chaos zu ihm verirrten. Doch auch die Rufe schwanden im Wirrwarr, das langsam zu seinem Kopf nach oben kroch. Wie ein Wurm bohrte sich das Licht durch seine linke Ohrmuschel, begann die Geräusche zu dämpfen, bis es sie schlagartig vollkommen verschluckte. Unter seinem rechten Ohr zerriss es ihm die Halsschlagader. Erst tiefrot, dann blau, grün, gelb und in Farben, die so noch niemand so gesehen hatte, sprudelte es aus seinem Hals, erstarrte für einen nahezu unfassbar kurzen Moment und verlor sich schließlich in der frischen Morgenluft um ihn. Unaufhaltsam schlug sich die wilde Masse auch durch sein rechtes Ohr und ließ die Welt um ihn verstummen.
Stilles Chaos umgab Screech, wie eine sanfte Decke, die ihn in seine Bestandteile riss, sie umformte, zerstörte, neu schuf und am Ende in sich aufnahm und eins damit wurde. Als würden sich all die bereits zerstörten Kleidungsschichten vor seinem Gesicht neu formen, wurde die Luft schwer zu atmen. Tiefer und tiefer hackte sich die bunte Energie durch seinen Hals. Als sie ihn endlich vollkommen zerfressen hatte, trennte sich Screechs Kopf von seinem Körper und wirbelte allein in Richtung Abgrund.
Seine Sicht war das nächste, was Screech genommen wurde. Blendendes Licht zuckte ihm unter seine Sucherbrille wie ein Blitz und ihm wurde weiß vor den Augen. Aber trotzdem war es, als wollte das Chaos ihm auch die letzte Erlösung des Todes nicht geben. In den letzten Momenten blieben ihm im endlosen Nichts noch seine schwindenden Gedanken.
Ein letzter Moment in vollkommener, unausweichlicher Ruhe.
Keine Wahrnehmung blieb ihm noch.
Nur sein Bewusstsein war da.
Bis er sich dann endlich
im Chaos verlor.
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