Lucifer beugte sich über das mattweiß gefärbte Stahlgeländer seines Balkons und ließ das Ergebnis seiner Arbeit auf sich wirken. Wie viel hatte es ihn gekostet und wie viele Risiken war er eingegangen. Doch es hatte sich ausgezahlt, daran bestand für ihn kein Zweifel. Die hell erleuchtete, saubere Stadt, welche sich unter ihm ausbreitete, entsprach genau seiner Vision. Er warf einen verächtlichen Blick zur Seite, wo sich irgendwo in der Dunkelheit des Abhangs die Wellblechhütten der Außenbezirke zusammenkauerten. Er sah sich selbst nicht als kaltherzigen Menschen und doch konnte er kein Mitleid empfinden für die Zweifler, die ihn selbst noch vor wenigen Jahren mit Spott bespien hatten. Ein anderes Schicksal hätten sie nicht verdient. Lucifer ließ seine Augen ein letztes Mal auf der Stadt ruhen, bevor er sich umdrehte und in die sichere Wärme seines Zimmers zurückkehrte. Er verachtete die Nacht, hasste die Kälte und ganz besonders die Dunkelheit, die sie mit sich brachte. Sie beraubte ihn des Überblicks, auf welchen er solchen Wert legte, die Schatten entzogen sich seiner Kontrolle. Als Revolutionär und Visionär hatte er sich bei Weitem nicht nur Freunde gemacht, wie ihm nur allzu gut bewusst war. Er blickte auf die vergoldete Uhr an seinem Arm, ein Statussymbol, welches in Preis und Gestaltung das Nötige auf extravagante Weise übertraf. Ein Zeichen, dass er im Gegensatz zu so vielen anderen Spielfiguren der Geschichte nicht gescheitert war, dass seine Vision Wirklichkeit geworden war. Das verzierte Ziffernblatt zeigte bereits kurz nach zehn. Er musste sich beeilen, in weniger als einer Stunde war seine Ansprache angesetzt. Hastig griff er nach seinem abgenutzten Filzmantel und warf ihn sich über die schmächtigen Schultern. Mit Ausnahme des Kleinodes an seinem Unterarm als beständige Erinnerung an seinen Erfolg versuchte er so bodenständig zu bleiben, wie es ihm irgend möglich war.
Als er die Wohnstätte verließ, folgten ihm zwei Angestellte seines privaten Sicherheitsunternehmens wortlos. Der Weg zum Rathaus mochte ein kurzer sein, doch an Sicherheit hatte Lucifer nie gespart. Zu oft hatten Verzweifelte versucht, ihm das Leben zu nehmen, selbst hatten sie schließlich fast nichts mehr zu verlieren. Obwohl er beim Durchqueren der engen Gassen zu spüren vermeinte, wie die Dunkelheit sich an ihn schmiegte, ihn sich einverleiben wollte, erwiesen sich die Männer auch dieses Mal als überflüssig. Er erreichte den von Flutlichtern in weißes Licht getauchten Platz ohne jegliche Zwischenfälle. Gelassen begann er den Aufstieg zu der eigens für den Anlass errichten Empore, welche stählern über der Szenerie thronte. Auf gar keinen Fall wollte er einen gehetzten oder sogar unruhigen Eindruck machen. Auch unter den Günstlingen des Schicksals gab es jene, die sich mit ihrer Welt nicht zufrieden geben konnten, solange sie rechts und links von sich nichts als Elend sahen. Sie verachtete Lucifer fast noch mehr als die Außenbezirkler selbst, welchen sie ihr missgeleitetes Mitleid zukommen ließen. Was hatte er alles für die Menschen getan und dennoch waren sie nicht zufrieden. Er entspannte seine Gesichtszüge. solche Gedanken waren besonders jetzt kontraproduktiv, da er ein besonders warmes und freundliches Abbild seiner selbst zeigen musste. Er ergriff das vor ihm aufgebaute Mikrofon und erhob die Stimme.
„Meine Damen und Herren! Liebe Mitbürger dieser einzigartigen Stadt! Als ich das Projekt vor einem Jahr als beendet erklärte, hätte ich mir nie träumen lassen, welch großartigen und besonderen Ort wir zusammen erschaffen würden. Ich möchte jedem einzelnen von ihnen persönlich von ganzem Herzen dafür danken.“ Begann er seine Rede mit Schmeicheleien, so würde er die Sympathien der Masse leichter halten können, sobald er sich mit kontroversen Themen auf dünnes Eis brachte. Das war wenigstens seine Hoffnung. Es war erstaunlich, wie sich eine Menschenmenge, Kindern gleich, bereits durch einfachste Rhetorik beeinflussen ließ. „Doch wie sich alle Versammelten sicher bewusst sind, waren nicht alle so glücklich wie ihr. Das könnte uns durch die Außenbezirke tagtäglich nicht deutlicher vor Augen gehalten werden.“ Lucifer beobachtete sein Publikum, während er seine Worte auf die Anwesenden wirken ließ. Exzellent, die Stimmung schien nicht zu kippen. „Ich bin mir ebenfalls bewusst, dass viele unter euch Mitleid für ihre Bewohner empfinden und dafür habe ich Verständnis, das könnt ihr mir glauben. Doch all das Elend, welchem diese Menschen ausgesetzt sind, haben sie selbst zu verantworten. Selbst als ich sie vor zwei Jahren mit meinen Thesen konfrontierte und dieses Unterfangen vorschlug, brachten sie mir nichts als Spott entgegen. Aber ihr solltet ihnen dankbar sein. Immerhin sind es die Bewohner dieser Gegenden, welche uns mit Rohstoffen und Ressourcen versorgen. Sie sind es, denen wir unser Eisen, unser Holz, unseren Lebensstandart zu verdanken haben!“ Eine Stimme hob sich aus der Masse. „Welche Wahl haben sie denn? Sie sind abhängig von den Gasmasken und den Medikamenten! Egal, welchen Preis wir dafür fordern, es ist keine Option für sie, abzulehnen! Das ist doch keine Gerechtigkeit!“ Lucifer ignorierte die Frau. Derartige Vorfälle waren keine Außergewöhnlichkeit, wann immer er sich der Öffentlichkeit präsentierte. „Außerdem habe ich sie gewarnt. Meine Erkenntnisse waren eindeutig. Nicht einmal mein erbittertster Gegner kann die Präzision meiner Voraussagen abstreiten! Das Erdbeben hat stattgefunden. Die Gaskavernen sind eingestürzt und haben den Nebel vergiftet. Und wenn ich, wie ich mit Verlaub annehme, richtig liege, werden die Spuren des Toxins noch mindestens eine halbe Dekade brauchen, bis sie sich vollständig aufgelöst haben. Die Menschen werden verkümmern. Doch ich hatte sie alle eingeladen, mit mir auf den Berg zu ziehen, hier eine neue Heimat aufzubauen!“ Wieder unterbrach ihn jemand, ein Mann dieses Mal. „Aber zu welchem Preis? Sie wissen genau, dass nur die Wohlhabenden jemals die Möglichkeit hatten, ihrer „Einladung zu folgen. Außerdem ist es offensichtlich, dass es keinen Platz gegeben hätte für all jene, die noch immer in den kümmerlichen Überresten der Außenbezirke siedeln. Sie hatten nie vor, mehr als die Elite der Stadt zu retten.“ Lucifer hätte sicherlich eine Antwort auf die Anschuldigungen gefunden, die vielleicht nicht die Aufsässigen, wohl aber die breite Masse beschwichtigt hätte. Wortgewandtheit war immer seine Stärke gewesen. Doch bevor er sie ausformulieren konnte, explodierte seine Welt.
Die Detonation zerriss die Nacht. Lucifer versuchte sich gegen die alles verschlingende Hitze der Druckwelle zu wehren, doch seine kläglichen Bemühungen wurden von der Naturgewalt überrollt. Einer der Zuschauer hatte sich selbst in einem letzten Verzweiflungsakt im Kampf für seine missgetriebene Ideologie der vermeintlichen Gerechtigkeit in eine menschliche Bombe verwandelt. Welcher es gewesen war würde niemals jemand erfahren. Nicht, dass es in jeglicher Weise Relevanz gehabt hätte, ihrer aller Seelen gehörten inzwischen vermutlich dem Todesgott. Er selbst hatte sein Leben lediglich der Schutzweste zu verdanken, die einen beträchtlichen Teil des Schadens abgefangen hatte. Er spürte, wie er nach hinten geschleudert wurde, hinunter von den geschwärzten Überresten des Podiums gegen das Geländer, welches den Abhang ankündigte. Panik füllte seine Augen, als auch dieses nachgab und ihn in die dichte Dunkelheit stürzen ließ.
Illya sah das gleißende Licht und hörte Sekundenbruchteile später auch den ohrenbetäubenden Krach, welcher von dem Bergplateau der Reichen und Glücklichen auszugehen schien und wurde für einen kurzen Moment mit Genugtuung erfüllt. Obwohl er die exakten Vorgänge nicht begreifen konnte, genoss er jedes Unheil, welches den Despoten widerfuhr mit allen Fasern seines ausgemergelten Körpers. Wie so viele andere hatte er selbst den Worten des selbsternannten Visionärs nicht genug Glauben schenken können, um all seine Besitztümer gegen einen Platz in seiner Stadt einzutauschen und wie so viele andere musste er nun unter jenen leiden, die die richtige Entscheidung getroffen hatten. Die Außenbezirke waren abhängig von der Stadt. Sollte diese aufhören, sie mit lebenswichtiger Schutzkleidung und medizinischen Artikeln zu versorgen, würden die verkrüppelten Siedlungen in Kürze das letzte Lebenslicht aushauchen, an das sie sich jetzt noch so verzweifelt klammerten. Doch dieses künstliche Lebenserhaltungssystem war keineswegs ein Gnadenakt. Die Sklavenarbeit, welche im Gegenzug von ihnen erwartet wurde, stand in keiner Relation zu den erbrachten Unterstützungsmaßnahmen. Sie wurden lediglich am Leben gehalten, weil sie nützlich waren, weil man sie ausschlachten konnte. Nicht selten fragte sich Illya, weshalb er sich nicht einfach der benebelnden Umarmung des Neurotoxins in der Luft hingab und nie konnte er eine Antwort finden, die ihn selbst überzeugte. Und doch war sein Lebenswille zu stark, mit aller Kraft hielt er sich an den letzten Fetzen Hoffnung, der ihm geblieben war.
Einatmen. Ausatmen. Jetzt gerade spielte er jedoch mit dem Gedanken, sich die Maske einfach vom Gesicht zu reißen und einige letzte, ungefilterte Atemzüge zu tun, bevor er unter der malerischen Szenerie des tiefblauen Nachthimmels zusammenbrach in dem Wissen, auf eine Weise endlich Freiheit gefunden zu haben. Sein Gedankenfluss wurde abrupt abgerissen, als er die verkrümmt am Wegrand an den Stein des Berges gelehnte Figur bemerkte.
Lucifer hatte Glück gehabt, falls in einer solchen Situation überhaupt noch von etwas wie Glück gesprochen werden kann. Sich in die kargen Stein des Berges klammernde Sträucher hatten seinen Fall gebremst, sodass der Aufprall am Fuße der Erhebung ihn nicht sofort zerschellen ließ. Er bemerkte jedoch, dass er kaum in der Lage war, sich zu bewegen, ein guter Teil seiner Knochen musste gebrochen sein. Er spuckte Blut und eben als er begann, jede Hoffnung, der Situation mit dem Leben zu entkommen, aufzugeben, schälte sich aus den Schatten ein menschlicher Umriss,
Illya trat auf den Mann zu und konnte bald dessen miserablen Zustand ausmachen. Gesicht und Brust waren überströmt von Blut und obwohl er unter seinem Filzmantel eine Schutzweste zu erkennen glaubte, ließ der entstellte und deformierte Brustkorb auf mehrere gebrochene Rippen schließen. Der Verwundete versuchte, den rechten Arm, aus welchem Illya Knochen austraten sah, zu heben, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Erst jetzt blickte er in das Gesicht des Mannes und wurde mit einer Mischung aus Hass und hysterischer Freude erfüllt. Er erkannte ihn. Wer hätte das nicht getan? Vor sich sah er die unverkennbaren blauen Augen, die ihm aus dem Propagandamaterial nur allzu bekannt waren. Er zog sein Messer und setzte dazu an, es Lucifer in den ungeschützten Hals zu stoßen, um dann erfüllt von dem Hochgefühl des Unterdrückten, der den Despoten zu Fall bringt, zuzusehen wie das Blut metaphorisch für das Leben aus dem Körper des Gründers der Stadt sickerte. Doch bevor die Klinge die Haut küsste, zog Illya seine Hand zurück. Langsam erhob er sich. Seine Stimme zitterte leicht, als er dem Todgeweihten die Worte „Lang lebe der König!“ in das zerschundene Gesicht spuckte, bevor er ihn der tödlichen Kombination aus seinen Wunden und dem allgegenwärtigen Toxin überließ.
Lucifer fiel seitlich auf das Kopfsteinpflaster des Weges, trotz größter Anstrengung war es ihm nicht mehr möglich, sich aufrecht zu halten. Die kleiner werdende Silhouette des Mannes, welcher nun seine Hände wieder in die Taschen der Felljacke gesteckt hatte, war das letzte, was seine sich langsam für immer schließenden Augen wahrnahmen.311Please respect copyright.PENANAid9Xnw0ed3